Kilian Mattitsch
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Moving Velum
Wenn wir über Architektur sprechen, sprechen wir auch immer über mögliche Funktionszusammenhänge. Die Funktionalität der Architektur, d.h. ihre Auflage bestimmten Zwecken dienlich zu sein, gibt Rahmenbedingungen vor, die der Entfaltung ihrer selbstreflexiven Strukturen Grenzen setzen. Andererseits vermittelt sich gerade diese Limitierung als Maßstäblichkeit, an der die Qualität von Architektur als Einverleibungs- und Überwindungsgestus eben dieser Auflagen ablesbar wird. Darin hat Architektur ihren emanzipativen Charakter. Architektur wird sie erst jenseits ihrer Zweckdienlichkeit.
Die Vorgabe des Projekts "moving velum" war das Semper-Depot, d.h. eine Funktionsarchitektur aus dem 19. Jahrhundert, die vornehmlich als Kulissenlager dienen sollte. Heute hat dieses Gebäude seinen ursächlichen und ursprünglichen Funktionszusammenhang verloren. D.h. wir stehen vor einem funktionalen Gebilde ohne Funktion. Die Inanspruchnahme einer funktionslos gewordenen Architektur kennt im Grunde nur zwei Lösungen: Die Musealisierung oder die Funktionsumwidmung. Tendiert die Musealisierung zum Einfrieren der Funktionslosigkeit zugunsten einer Aufwertung der formalistischen Aspekte, die nun selbst als Funktion - als historischer Mehrwert - in Erscheinung treten sollen, so sucht die Umwidmung des Gebrauchszusammenhangs nach den unbewußten oder nicht beabsichtigen, aber immanent enthaltenen Verwendungsprofilen.
Der Prospekthof des Semper-Depots mit seinen vier Etagen fungiert heute als Ausstellungsraum. Seiner ursprünglichen Funktion entkleidet treten seine impliziten Bedeutungsebenen zu Tage. Maßgeblich für den Eindruck ist die enorme Raumhöhe, die sich plötzlich als Herrschafts- oder Repräsentationsarchitektur zu erkennen gibt. Jeder Eingriff, jedes Kunstwerk, sieht sich gezwungen, nolens volens auf diese Vorgabe Bezug zu nehmen.
Das "moving velum" war der Versuch, mit einer textilen und in der Höhe verstellbaren "Decke" auf diese Repräsentationsfigur einzugehen. Seine Flexibilität erlaubte die Einsicht der vollen Raumhöhe wie die hautnahe Erfahrung einer auf körpergröße abgesenkten Decke. Damit wurde die Doppeldeutigkeit der Decke, als obere Begrenzung eines Raumes wie als wärmendes Textil gleichermaßen markiert. Die volkstümliche Rede von "der Decke, die einem auf den Kopf fällt" und eine Art klaustrophobischer Erfahrung konnotiert, war genauso enthalten wie die bedeutungsheischende Froschperspektive auf die Repräsentations- und Herrschaftsarchitektur.
In diesem Sinne konzentrierte sich der Eingriff des "moving velum" auf die Biegsamkeit der architektonsichen Semantik, d.h. auf die inhaltliche Verwandelbarkeit eines Raumes von der individuellen und intimen Zone zur Machtfigur, die ihre Subjekte selbst nur mehr als Requisiten behandeln kann.
Als Modell manifestiert das "moving velum" einen Begriff von Architektur, der ihre Biegsamkeit trotz oder gerade auf Grund ihrer unverrückbaren Bedingungen reflektiert. Wenn wir oben von der emanzipativen Qualität des Architektonischen gesprochen haben, dann liegt in der Funktionsumwidmung und Umwidmungsbarkeit ein weiterer Maßstab für die Qualität einer Form selbst. Die Musealisierung und Umwidmung werden darin zu immanenten und simultanen Verwendungsprofilen, die die Wahrnehmbarkeit der Form als semantisches Spektrum oder eigentliche Aufgabe der Architektur vermitteln können.

Andreas Spiegel