Moving
Velum
Wenn wir über Architektur sprechen,
sprechen wir auch immer über mögliche Funktionszusammenhänge.
Die Funktionalität der Architektur, d.h. ihre Auflage bestimmten
Zwecken dienlich zu sein, gibt Rahmenbedingungen vor, die der
Entfaltung ihrer selbstreflexiven Strukturen Grenzen setzen. Andererseits
vermittelt sich gerade diese Limitierung als Maßstäblichkeit,
an der die Qualität von Architektur als Einverleibungs- und
Überwindungsgestus eben dieser Auflagen ablesbar wird. Darin
hat Architektur ihren emanzipativen Charakter. Architektur wird
sie erst jenseits ihrer Zweckdienlichkeit.
Die Vorgabe des Projekts "moving velum" war das Semper-Depot,
d.h. eine Funktionsarchitektur aus dem 19. Jahrhundert, die vornehmlich
als Kulissenlager dienen sollte. Heute hat dieses Gebäude
seinen ursächlichen und ursprünglichen Funktionszusammenhang
verloren. D.h. wir stehen vor einem funktionalen Gebilde ohne
Funktion. Die Inanspruchnahme einer funktionslos gewordenen Architektur
kennt im Grunde nur zwei Lösungen: Die Musealisierung oder
die Funktionsumwidmung. Tendiert die Musealisierung zum Einfrieren
der Funktionslosigkeit zugunsten einer Aufwertung der formalistischen
Aspekte, die nun selbst als Funktion - als historischer Mehrwert
- in Erscheinung treten sollen, so sucht die Umwidmung des Gebrauchszusammenhangs
nach den unbewußten oder nicht beabsichtigen, aber immanent
enthaltenen Verwendungsprofilen.
Der Prospekthof des Semper-Depots mit seinen vier Etagen fungiert
heute als Ausstellungsraum. Seiner ursprünglichen Funktion
entkleidet treten seine impliziten Bedeutungsebenen zu Tage. Maßgeblich
für den Eindruck ist die enorme Raumhöhe, die sich plötzlich
als Herrschafts- oder Repräsentationsarchitektur zu erkennen
gibt. Jeder Eingriff, jedes Kunstwerk, sieht sich gezwungen, nolens
volens auf diese Vorgabe Bezug zu nehmen.
Das "moving velum" war der Versuch, mit einer textilen
und in der Höhe verstellbaren "Decke" auf diese
Repräsentationsfigur einzugehen. Seine Flexibilität
erlaubte die Einsicht der vollen Raumhöhe wie die hautnahe
Erfahrung einer auf körpergröße abgesenkten Decke.
Damit wurde die Doppeldeutigkeit der Decke, als obere Begrenzung
eines Raumes wie als wärmendes Textil gleichermaßen
markiert. Die volkstümliche Rede von "der Decke, die
einem auf den Kopf fällt" und eine Art klaustrophobischer
Erfahrung konnotiert, war genauso enthalten wie die bedeutungsheischende
Froschperspektive auf die Repräsentations- und Herrschaftsarchitektur.
In diesem Sinne konzentrierte sich der Eingriff des "moving
velum" auf die Biegsamkeit der architektonsichen Semantik,
d.h. auf die inhaltliche Verwandelbarkeit eines Raumes von der
individuellen und intimen Zone zur Machtfigur, die ihre Subjekte
selbst nur mehr als Requisiten behandeln kann.
Als Modell manifestiert das "moving velum" einen Begriff
von Architektur, der ihre Biegsamkeit trotz oder gerade auf Grund
ihrer unverrückbaren Bedingungen reflektiert. Wenn wir oben
von der emanzipativen Qualität des Architektonischen gesprochen
haben, dann liegt in der Funktionsumwidmung und Umwidmungsbarkeit
ein weiterer Maßstab für die Qualität einer Form
selbst. Die Musealisierung und Umwidmung werden darin zu immanenten
und simultanen Verwendungsprofilen, die die Wahrnehmbarkeit der
Form als semantisches Spektrum oder eigentliche Aufgabe der Architektur
vermitteln können.
Andreas Spiegel
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